… klingt nicht nach Kunst? Wahrscheinlich nicht, aber es klingt auf jeden Fall wie Produktdesign 😀
Als wir letzte Woche zu Kunstwissenschaften in den Hörsaal kamen, erwartete uns eine Überraschung:
Unser Professor genoss unsere verdutzten Gesichter für einen Moment und teilte uns dann Bewertungsbögen aus. Wir sollten uns in Zweiergruppen aufteilen und uns jeweils einen Stuhl aussuchen, um ihn in 20 Minuten zu analysieren. Meine Kommilitonin und ich haben uns für das unauffälligste Modell entschieden:
Der SE 68 wurde von Egon Eiermann (D) in den 50-er Jahren entworfen und wird vertrieben bei »Wilde + Spieth« (D) für einen Stückpreis von jeweils 270 €. Ich war überrascht, als ich herausfand, dass dieser Stuhl tatsächlich ein Designerstuhl ist; immerhin findet man ihn massenweise in Bildungsstätten und anderen öffentlichen Gebäuden. Er ist doch nichts Besonderes!
Aber fassen wir den Bewertungsbogen zusammen:
- Grunddaten: Name – SE 68; Objektart – Möbelstücke/Stühle; Funktion – Sitzgelegenheit; Materialien – Leichtholz, Metall, Gummi (Beschichtung unter den Füßen); Hersteller – Wilde+Spieth; Designer – Egon Eiermann; Preis – 270 €; etc.
- Formanalyse: Hauptbestandteil(e) – Rückenlehne, Sitzfläche, Beine; Farbe – schwarz/Metall; Oberflächencharakter – flexible Rückenlehne, nicht mit der Sitzfläche verbunden, ergonomisches Design
- Funktion: praktische Funktion (Ergonomie, Handhabung) – Teile sind gewunden, abgerundet (Ergonomie); Symbolische Bedeutung – keine; Gesamtwirkung – harmonisch; etc.
- Kontext: Zielgruppe – Menschenansammlungen (Veranstaltungen, Bildungsstätten); Vergleich mit Wettbewerbern – simpel, relativ unauffällig; Botschaft (Marketingstrategie) – »Dieser Stuhl ist gedacht für jeden (groß und klein, dick und dünn, jung und alt), der längere Zeit in einer sitzenden Position verbringen wird. Jedoch lädt der Stuhl nicht zur völligen Entspannung ein (keine Polsterung), weshalb die Aufmerksamkeit stets erhalten bleibt. « etc.
Das meiste fanden wir heraus, indem wir uns den Stuhl einfach genau angesehen haben. Für den »Funktion«-Teil schlüpften wir in die Rolle eines ausgelaugten Studenten, der einen Platz zum Ausruhen sucht 😀
Nachdem einige Gruppen ihre Analyseergebnisse vorgestellt hatten, analysierte auch unser Professor einige Stühle berühmter Designer für uns. Jetzt weiß ich: Stuhl ist nicht gleich Stuhl!